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Eine Liebe auf dem Lande, Eisengießer und Lokomotiven, Licht und Musik und ein Gleismädchen – Fünf E-Books von Freitag bis Freitag zum Sonderpreis
Erstellt von EDITION digital - DER E-Book-Verlag am 21.09.2017
Eines der ältesten Themen der Literatur ist eines der ältesten Themen der Menschen – die Liebe. Es mag wohl keine Zeit und keine mitunter noch so schwierigen Umstände gegeben, da sich nicht wenigstens ein Mensch in einen anderen oder zwei Menschen sich ineinander verliebt haben. Das war auch zu DDR-Zeiten im Sozialismus nicht anders.
Um Liebe, oder zumindest um deren Vorstufe, um die nicht zu unterdrückende Sympathie eines Mannes zu einer Frau geht es zumindest in einer der Ego-Episoden von Dr.-Ingenieur Helmut Routschek, der seine literarischen, zumeist dem SF-Genre zuzuordnenden Arbeiten unter dem Pseudonym Alexander Kröger veröffentlicht hatte (siehe auch den dritten Deal dieser Woche). Diesmal aber erzählt ausnahmsweise nicht Alexander Kröger, sondern Dr. Routschek selbst ohne Pseudonym und aus dem eigenen Leben – wahr, heiter und besinnlich.
Apropos Heiterkeit. Die stellt sich auch beim (Wieder-)Lesen des bereits erwähnten fünften und letzten Deals der Woche von Heinz Kruschel ein – „Rette mich, wer kann“. Aber ganz ehrlich, manchmal will man doch gar nicht gerettet werden, sondern einfach nur lesen, lesen, lesen. Warum? Weil es spannend ist. Und aus Liebe zur Literatur … und zum Leben natürlich. Zum Leben der literarischen Helden.
Erstmals 1980 erschien im Kinderbuchverlag „Geisterstunde in Sanssouci. Bilder aus dem Leben Adolph Menzels“ von Renate Krüger: Das riesige Bild, das Menzel malen soll, wird fast anderthalb Meter hoch und über zwei Meter lang werden. Es steht auf Menzels stabilster Staffelei, und er turnt auf Stühlen und einer Trittleiter davor herum wie ein Affe. Menzel weiß selbst, dass das unheimlich aussieht, deshalb darf ihn auch niemand dabei beobachten, nicht einmal Emilie, damit sie vor dem zwergischen Bruder nicht allen Respekt verliert. Anstrengend ist dieses Herumturnen, in der Linken die Palette auf dem Daumen, das Malbrett mit den angemischten Farben, in den Fingern ein halbes Dutzend Pinsel; in der Rechten den Pinsel, mit dem er gerade malt, und dann rauf, ganz unter die Decke, wo das Licht verflimmert und verglimmt und gerade noch die goldenen Ornamente sichtbar sind, dann wieder runter, vorsichtig mit dem Fuß tastend, zurücktreten und die Malerei aus einiger Entfernung prüfen. Ob das Licht auf dem Bild nun auch wirklich ganz lebendig ist? Man muss es mit den Händen greifen können. Die Autorin erzählt von dem kleinen und doch so großen Maler Menzel im Berlin des 19. Jahrhunderts. Einige seiner berühmten Gemälde sind hier zu Geschichten geworden: erbaulich, prächtig, vergnüglich, nachdenklich und allesamt unterhaltsam. Ein merkwürdiges Balkonzimmer wird gezeigt: durch die geöffnete Tür will eine neue Zeit herein. Es ist von einem König die Rede, der am liebsten Flöte spielt, wenn er nicht gerade auf dem Schlachtfeld ist. Es herrscht Gewitterstimmung, und es werden vornehme Damen gemalt und Soldaten und Kammerherrenzöpfe, Eisengießer und Lokomotiven und Licht und Musik. Und so geht das Buch über den großen kleinen Menzel los:
„Ein Selbstbildnis: 1834
Also, Herr Erdmann Hummel, an mir soll es nicht liegen, ich führe jetzt Ihren Auftrag aus. Ich habe alle angefangenen Arbeiten weggeräumt, sitze an meinem Zeichentisch und zeichne mein eigenes Bild, ganz wie Sie es wünschen.
Ich bin es gewohnt, dass ich jedes bestellte Bild zeichne, ich muss ja schließlich meine Familie ernähren. Ja, lachen Sie nicht, Herr Hummel, Sie wissen schon, wie ich es meine. Ich bin zwar erst neunzehn Jahre alt, und in diesem Alter hat man eigentlich noch keine eigene Familie. Und doch! Seit Vater vor zwei Jahren gestorben ist — er hieß übrigens auch Erdmann, genau wie Sie, Carl Erdmann Menzel —, muss ich allein für Mutter und Geschwister, die elfjährige Emilie und den achtjährigen Richard, sorgen. Und ich kann es. Ich habe es geschafft, meines Vaters Werkstatt weiterzuführen und sogar noch zu vergrößern. Und nun kommen Sie, Herr Hummel, einer der berühmtesten Maler Berlins, und geben mir einen Auftrag, der mir zwar kein Geld einbringen wird, dafür aber Ehre und Ruhm.
Sie wollen mein Selbstbildnis für den Berliner Künstlerverein. Und ich, so meinen Sie, soll Mitglied dieses Vereins werden, obgleich ich noch jung bin und die Kunstakademie nicht bis zum Ende besucht habe. Quatsch Kunstakademie, haben Sie gesagt, deine Kunstakademie ist die Natur, Menzel, halte du dich nur an die Natur. Du sollst einer von uns werden, und als Eintrittsgeld brauchen wir dein Selbstbildnis, und nun ran an die Arbeit, zeig mal, wie du aussiehst und wie du dich selbst siehst ...
Na schön, Herr Erdmann Hummel! Ich bin noch immer der Menzelzwerg, und daran wird sich wohl nichts mehr ändern, ich wachse nicht mehr. Meine Schwester Emilie ist fast so groß wie ich. Als sie am vorigen Sonntag zu einem Besucher sagte: „Warten Sie, ich werde meinen kleinen Bruder holen“, da habe ich ihr eins hinter die Ohren gegeben, auch wenn es mir mehr wehtat als ihr. Aber schließlich bin ich das Oberhaupt der Familie ... Auch wenn ich noch immer nicht vom Stuhl aus mit den Beinen auf den Fußboden komme und sie baumeln lassen muss wie mein kleiner Bruder Richard. Mitglied des Berliner Künstlervereins! Bei diesem Gedanken aber fühle ich mich gleich viel größer. Und dafür will ich gern mein eigenes Bild als Eintrittspreis hergeben. Ich bin auch ziemlich neugierig, wie ich eigentlich aussehe, denn bis jetzt habe ich noch keine Zeit gehabt, mich selbst zu zeichnen. Ich hatte immer mehr als genug zu tun mit Abbildungen von Pferden und Kanonen, Pflanzen und Tieren, Handwerkern und ihren Hausbauten, Bauern auf dem Feld und im Stall. Eigenartig ist es, wenn man sich so gegenübersitzt, sich selbst aufs Papier bringen will. Es scheint so, als blicke mir aus dem Spiegel ein fremder Mensch entgegen, mit dem ich mich unterhalten muss, damit ich ihn besser kennenlernen kann.
Woher bist du gekommen, kleiner Menzel? Na, das weiß doch fast jeder! Aus Breslau sind wir hierher nach Berlin gezogen. Vater war in Breslau Lehrer, er hatte eine eigene private Schule mit lauter Mädchen, das war ein Geschnatter im Haus! Die Mädchen mochten ihn sehr, und wer wollte, konnte eine Menge bei ihm lernen. Aber er war nicht gern Lehrer, er wollte lieber zeichnen, die Natur beobachten, Bücher illustrieren, eben das, was ich jetzt tun darf. So gab er die Schule auf und bemühte sich um Aufträge zum Zeichnen. Aber Breslau ist zu klein. Schließlich verkaufte er unser Haus, und wir zogen nach Berlin. Es war ein schönes Haus, das wir da verließen. „Zur Goldenen Muschel“ hieß es, weil über der Haustür eine Muschel aus Stein angebracht war. Gold habe ich an ihr freilich nicht gesehen, das war schon längst abgeblättert. Unser Haus hier in der Berliner Wilhelmstraße hat keinen Namen, nur die Nummer 39, und unsere Wohnung ist auch längst nicht so groß wie die in der „Goldenen Muschel“.
Wie groß soll mein Bild eigentlich werden? Davon hat Herr Hummel nichts gesagt. Es darf nicht angeberisch werden, aber auch nicht zu klein. Dieses Blatt hier, denke ich, so groß wie eine Heftseite, wird wohl genügen. Und in welcher Technik? Ich werde es mit dem Bleistift probieren, damit arbeite ich am liebsten. Er muss ganz kurz sein. Es kommt mir dann immer so vor, als zeichne ich mit den Fingern. So wie jetzt. Ich habe nur noch einen Stummel in der Hand. Aber es geht leicht und schnell damit. Allzu lange darf ich mich mit meinem eigenen Bild auch nicht aufhalten, denn es wartet noch andere Arbeit auf mich, und ich will meine Auftraggeber nicht enttäuschen.
146 Jahre nach diesem Selbstbildnis und vier Jahre nach dem Erscheinen des Buches von Renate Krüger veröffentlichte Alexander Kröger als Band 186 in der Reihe „Spannend erzählt“ des Verlages Neues Leben Berlin seinen Science Fiction-Roman „Der Geist des Nasreddin Effendi“. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2013 im Projekte Verlag Cornelius GmbH, Halle unter dem etwas kürzeren Titel „Der Geist des Nasreddin“ veröffentlicht worden war: Ein Mann erwacht in der Gegenwart auf dem Basar in Chiwa. Er erinnert sich, dass er wegen seiner Liebe zu einer Frau des Chans enthauptet werden sollte. Er glaubt Nasreddin Chodscha, der Volksheld und Schalk (der Eulenspiegel des Orients) zu sein. Da er geistig zunächst in seiner mittelalterlichen Welt verhaftet ist, stößt er auf Unverständliches und Ungeheures, auf Bekanntes und schrecklich Unbekanntes und stürzt so von einem spannenden Abenteuer ins andere. Der jungen Wissenschaftlerin Anora gelingt ein unerhörtes Experiment mit menschlichen Gehirnen, in dessen Folge spannende Verwicklungen für Aufregung und für eine ungewöhnliche Liebe sorgen. Anora folgt Nasreddins Weg, auf dem er seinem Image treu bleibt. In einer Rezension der Abteilung Literatur und Medien in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft des Landesverbandes Hessen war über diesen Roman zu lesen: „Die raffinierte Mischung aus Märchen, Geschichte und SF ist äußerst spannend und witzig und kann den Leser jeden Alters durch ihre Spannung in Atem halten. Nebenbei vermittelt sie auf amüsante Weise eine gehörige Portion an historischem, völker- und länderkundlichem Wissen, ohne im Mindesten pädagogisch-lehrhaft zu wirken.“ Lernen wir also diesen Man kennen, der Nasreddin Effendi sein könnte. Wir sind am Beginn des ersten Kapitels und „In Chiwa“:
„Ganz behutsam drang es in sein Bewusstsein - als zersprängen Wassertropfen auf heißem Stein, und jedes Kügelchen verzischte mit eigenem Geräusch: Da murmelten Stimmen, ein Esel schrie; von dorther scholl das Knirschen eisenbeschlagener Räder auf Kies. Auch undefinierbares Brummen war zu hören. All das aber klang wie unter einem Tontopf hervor, gedämpft, entfernt, unwirklich.
Und dann war alles wieder vorbei, bis auf ein dumpfes Rauschen vielleicht, von dem man nicht wusste, ob es vom Umfeld oder von innen aus dem Kopf kam. Es schien, als bilde sich irgendwo einer jener Tropfen neu, würde schwerer und schwerer, bis er sich schließlich löst und abermals auf dem Stein zerschellt; denn wieder und wieder sprangen die Geräusche auf. Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde ihm bewusst, dass sich der Abstand zwischen den Tropfen verringerte, als bahne sich das Wasser mehr und mehr Durchgang durch ein löchriges Gefäß.
Plötzlich gellte eine schrille Frauenstimme: „Willst du wohl den Apfel zurücklegen, du Schlingel!“ Ein Kind rief: „Aua!“ Gelächter kam auf. Dann drängte ein Mann: „He Onkelchen, wach endlich auf. Dein Zeug ist sonst verschwunden, bevor du einen einzigen Sum dafür eingenommen hast.“ Und wieder die Frau: „Dieser Gottlose wird sich einen angetrunken haben. Und Allah straft ihn mit einem Brummschädel, kein Auge kriegt er auf. Schaut ihn euch an, Leute, diesen Saufbold.“ Auf einmal rief der Mann in einem anderen Tonfall: „Komm, kauf! Die besten Trauben, die wunderbarsten Granatäpfel von Chiwa, süß und billig, eingefangene Sonne!“ Und nach einer kleinen Weile murmelte er: „Der Scheitan soll dich holen!“ „He, wach auf, du Taugenichts!“ Diesmal war die Stimme des Mannes barscher, vielleicht vor Ärger, weil der Kauflustige seine Ware verschmäht hatte. „Dummkopf!“, sagte die Frau gedämpft. „Seine Granatäpfel sind viel schöner als unsere, und er hat angeschrieben, dieser Esel, dass er fürs Kilo nur sechshundert Sum haben will. Der schnappt uns die Käufer weg. Lass ihn also in Ruhe, wenn Allah ihn schon mit Dummheit geschlagen hat.“
>Basar, ich bin auf dem Basar!< Das Dumpfe im Kopf schwand. Scharf drangen die Geräusche auf den Mann ein. Gefeilsche in der Nachbarschaft, Anpreisen von Granatäpfeln, wie sie schöner auf Gottes Erdboden nie gewachsen sind, Melonen, Gewürze ... >Ah! Gewürze!< Und sofort verspürte er ihren Duft, glaubte die Aromen zu schmecken. Und einmal gerochen, gab’s da noch mehr: Rauch, Eselsdung und Schweiß. Darüber lagen dumpfes Gemurmel, das Schlurfen unzähliger Schritte und Staub, den man ebenfalls roch. Basar! >Basar?< Eine siedende Welle durchfloss den Mann, gab Kraft, die schweren Augenlider hochzureißen und sich kerzengerade aufzurichten. Gleichzeitig, wie im Reflex, flogen die Hände an den Hals, als wollten sie würgen. Eine Flut von Eindrücken ergoss sich über den, der da, gelehnt an eine Mauer, inmitten bester, ausgebreiteter Früchte saß. Das nahm der Mann zuerst wahr, aber auch eine wogende Menge Menschen, die zwischen den Ständen und Waren, Eseln und Karren auf und ab defilierten, bunt gemischt, wie stets auf einem großen Basar. >Wie stets?< Da gab es etwas Störendes, Fremdes.
Ah, aus der Menge zwei Frauenaugen - Frauenaugen!, das Antlitz des Weibes umrahmt von einem bunten Kopftuch. Augen auch, die sich sofort von ihm wandten, als sein Blick den ihren traf. Ihm war noch, als lächelte das Gesicht, zu dem diese Augen gehörten. Aber was überwog, Basar und Menschen, Früchte und, oh Allah, unbedeckte, liebliche Frauengesichter, was alles zu einem flüchtigen Streiflicht, einer Traumsekunde machte, war der Gedanke: >Ich lebe ja, ich lebe!< Kaum hatte er den freudigen Schreck genossen, überfiel ihn mit niederschmetternder Wucht die Angst. Er riss den Kopf nach links, nach rechts, gewärtig, dass dieser vielleicht doch noch herunterfiele, aber mehr darauf gefasst, die Faltstiefel und Pluderhosen der Häscher neben sich zu erblicken, Männer, die sich - wie die Katze mit der Maus - mit ihm einen Spaß, einen letzten Spaß, verschafften. Aber noch gewahrte er diese typischen Kleidungsstücke nicht, sah keine Spitze eines herabhängenden Krummsäbels.
Rechts neben ihm kauerte das ältere Paar hinter einer sehr niedrigen Bank, auf der die Ware lag. Links ein Karren, dahinter die Hufe eines Esels, dazwischen ein Haufen Heu. Ein ungeheurer Drang, aufzuspringen, zu laufen, davonzulaufen, erfasste den Mann. Sein Blick ging auf einmal wie bei einem gehetzten, in die Enge getriebenen Tier. Heiß und kalt überlief es den Körper. Übermenschlich drängte der Wunsch, das auf so wundersame Weise erhaltene Leben festzuhalten, zu retten. >Ein Irrtum des Emirs, eine Unachtsamkeit der Häscher? Ich lebe!<, jubelte es in ihm. >Ich will leben!< Und fieberhaft jagten die Gedanken.
Eine Sekunde wurde er sich bewusst, dass er nicht an sein lumpiges Leben gedacht hatte, als sie ihn gebunden zum Richtplatz führten, als er zusehen musste, wie das Haupt der Geliebten in den Sand rollte. Und es war, als wollte der Schmerz den Mann erneut überfallen. >Nilufar - du bist gestorben, weil wir uns liebten. Glaube mir, ich bin dir gern in den Tod gefolgt. Es ist Allahs Wille, muss Allahs Wille sein, dass ich lebe.< Wieder sah er sich erschrocken um. >Wie, bei Allah, bin ich vom Richtplatz auf den Basar geraten? Und weshalb sind hier unverschleierte Frauen, ebenso viele wie Männer? Ah, es ist ein Traum, du träumst, Nasreddin, du bist in der Welt der Toten.< Einen Augenblick war ihm nach diesem Gedanken leicht.
Ein Granatapfel, der ihm mit ausgestrecktem Arm entgegengereckt wurde, brachte ihn in die momentane Wirklichkeit zurück. Es war ein Apfel aus seinem - >Weshalb eigentlich meinem?< - Bestand, und ihn hielt eine sehr schöne hellhäutige Frau, und der Arm war nackt bis zur Schulter. Diese Frau redete ihn in einer fremden Sprache an. Der Mann blickte sich noch einmal um, aber nach wie vor zeichnete sich keine Gefahr ab. Mit der Rechten wehrte er die zudringliche Nachbarin ab, nahm den Apfel verwirrt aus der Hand der Frau und sagte sanft und wunderte sich über seine wohlklingende tiefe Stimme: „Ein Akscha.“ Die Nachbarin lachte hell auf, wies mit ausgestrecktem Arm auf den Verkäufer, tippte sich mit der anderen Hand nachdrücklich an die Stirn und ermutigte andere, in ihr schrilles Lachen einzustimmen. „Ein Akscha“, gluckste sie nachäffend mit zahnlückigem Mund.
Verunsichert blickte der Mann, sah auf den Apfel in seiner Hand, in das Gesicht der schönen Käuferin, die dem Geschehen offenbar ebenfalls nicht folgen konnte, und zur Nachbarin. Da lächelte die Kaufwillige, die zu einer Gruppe eigenartig angezogener hellhäutiger Passanten - zu denen noch viele Frauen gehörten - zählte. Und als wurde es dem Mann erst jetzt bewusst: In der Tat, die Frauen zeigten ihre Gesichter ohne Scham, als sei es für sie etwas Alltägliches. >Oh Allah!< Und er schaute in den Himmel, der blau war, und sah über die niedrigen Schuppendächer jenseits der Straße die schlanke Spitze des Minaretts, eines Minaretts. >Ja, bin ich denn nicht in Chiwa?< Er blickte die Straße hinunter, und dort sah er, zwischen den Körpern der Leute hindurch, das Eingangstor zur Karawanserei. >Doch Chiwa ...! Aber das Minarett? Was ist geschehen? Die Frauen ohne Schleier, ein falsches Minarett? Also doch tot, in einer anderen Welt. Aber in einer, die nicht minder schön ist.< Und er sah in das Gesicht der Frau und nickte ihr froh zu. Diese steckte den Apfel in einen Beutel und legte ein grünliches Scheinchen auf das Brett.
Dann drängten andere aus der Gruppe vor, hielten ebensolche Papierchen oder auch Münzen hin, und der Mann, verwirrt, aber dennoch ein wenig geschmeichelt ob des regen Zuspruchs, verteilte seine Waren mit beiden Händen. Auf das ausgebreitete Tuch purzelten Scheine und Münzen, er achtete nicht darauf. Er fand zunehmend Gefallen an seinem Tun, begann sogar, die Früchte zu preisen, obwohl es nicht notwendig war; und das Gekeife der Nachbarin, die ihm die Pest an den Hals wünschte, belustigte ihn. Fast jeder der Gruppe nahm etwas. Und als der Letzte die letzte Melone erwarb, war kaum eine Viertelstunde verflossen. Lachend und schnatternd zogen sie weiter. Die, die zuerst den Apfel gekauft hatte, hielt dem Händler etwas in Silber und Grün Eingepacktes hin, das nach Pfefferminz roch, und bedeutete ihm, es als Geschenk anzunehmen. Er nahm es, roch daran, und als sie ihm durch Gesten zu verstehen gab, dass es etwas Essbares sei, nickte er dankend und lächelte.“
Im selben Jahr 1984 brachte der Altberliner Verlag „Rosinen im Kopf. Eine unglaublich wahre Geschichte“ von Jurij Koch heraus. Noch einmal fünf Jahre später erschien erstmals im Kinderbuchverlag Berlin sein Buch „Die rasende Luftratte oder Wie der Mäusemotor erfunden wurde“. Beide Titel zusammen ergeben das E-Book „Die rasende Luftratte und Rosinen im Kopf“: Stephan erklärt an seinem 9. Geburtstag, dass er Erfinder wird. Ein Jahr später kennt ihn die ganze Welt, den Erfinder des Mäusemotors. Erst treibt er den Fahrraddynamo an, dann das Motorrad seines Urgroßvaters, dann ein altes Auto und schließlich baut er ein Flugzeug, die rasende Luftratte. Aber er hat nicht nur Freunde und Bewunderer.
Mathies sagt man nach, dass er Rosinen im Kopf habe. Er macht lauter unmögliche Sachen. Als sein fauler Bruder Thomas ein Stück Kuchen nach dem anderen verdrückt hat, ist er zu schwer für das Kettenkarussell. Seine Gondel reißt ab und Thomas fliegt in die Luft. Mathies kann ihn doch nicht allein lassen und katapultiert sich ebenfalls mit einer Gondel in den Himmel. Während sich Thomas in eine weiche Wolke legt und schläft, muss Mathies gefährliche Abenteuer bestehen, um seinen Bruder zu finden und zu retten. Wie aber kamen die Rosinen in Mathies Kopf?
Hier der Anfang der Geschichte „Die rasende Luftratte oder Wie der Mäusemotor erfunden wurde“: Es gibt wohl keinen Menschen auf der Welt, der Stephan Möhring nicht kennt. Vor einigen Jahren war er ein Junge, den nur wenige kannten. Seine Schulkameraden, die Eltern, Oma, der Urgroßvater und vielleicht noch ein paar unwichtige Personen. Inzwischen aber schreiben Zeitungen über ihn. Er schaut uns von Bildern in Büchern, auf Wänden in Schulen und Ferienheimen an, wird von Präsidenten empfangen, darf Pfannkuchen essen und Limonade trinken, soviel er will.
Jedermann weiß, dass Stephan den Mäusemotor erfunden hat. Ich bin gebeten worden zu erzählen, wie es dazu gekommen war. Man kann über bekannte Leute nicht genug berichten. Außerdem bin ich der einzige auf der Welt, der über die Ereignisse genau Bescheid weiß.
An dieser Stelle wird sich der eine oder andere am Hinterohr kratzen. Dort liegt das Personengedächtnis. Bevor ihr nun zum Lexikon greift, muss ich der Ausführlichkeit wegen, mit der ich die Geschichte erzählen will, sagen, dass Stephan Möhring jetzt anders heißt. Nach seiner großen Erfindung hatte man ihm geraten, sich einen Namen zuzulegen, der seinen Erfolg nicht ins Lächerliche zieht. Eine Arbeitsgruppe, in der Schüler, Lehrer und Eltern mit einem Regierungsvertreter berieten, einigte sich auf den Namen Maus. Also Stephan Maus. Wenn ihr im Nachschlagewerk nachschlagt, müsst ihr ... Ist doch klar!
Ich will mich beeilen und zur Sache kommen, denn ausführlich erzählte Geschichten laufen Gefahr, langweilig zu werden. Obwohl ich euch raten möchte, Bücher nicht gleich aus der Hand zu legen, wenn ihr auf langweilige Stellen stoßt. Ihr könntet die spannendsten versäumen. Stephan ist trotz seiner Berühmtheit nicht eingebildet. Er wird mir daher nicht übel nehmen, wenn ich nur seinen Vornamen verwende. Stephans Geschichte begann mit einem Ärger. Er wurde ständig von Erwachsenen gefragt, was er denn einmal werden wolle, wenn er die Schule hinter sich gebracht haben würde. Viele Jahre hob er bei solchen witzlosen Fragen die Schultern und spitzte die Lippen. An seinem neunten Geburtstag antwortete er seinem Onkel, er werde Erfinder. Nachdem sich das Lachen des Onkels, seiner Frau und der anderen herumstehenden Verwandten gelegt hatte, fügte er noch hinzu, dass er einen neuen Motor erfinden wolle, der ohne Gestank und Abgase arbeite. Nun lachten die herumstehenden Verwandten, während der Onkel die Lippen zu einem Fragezeichen verzog. Er vermutete nämlich, dass die Bemerkung gegen sein stinkendes Auto gerichtet war, mit dem er seit dreißig Jahren zu allen Geburtstagen und ähnlichen Feiern aufkreuzte. Das Auto war ein Eigenbau, der mehrere Typen in sich vereinigte, schrecklichen Krach verursachte und viele Löcher und Ritzen besaß, aus denen jeweils ein anderer Gestank drang.
„Erfinder, soso“, wiederholte der Onkel und löschte das Fragezeichen auf den Lippen. „Ich wollte auch einmal die Welt umschiffen.“ Er lachte über den eigenen Witz, von dem er dachte, dass er einer war. Die anderen Verwandten lachten nicht. Sie mochten den alten Isegrim nicht. Er ähnelte seinem Auto. Wenn er den Mund öffnete, verpestete er die Umwelt. Zum Beispiel behauptete er, dass die Welt bald untergehe. Dass es keinen Sinn habe, sich anzustrengen. Außerdem liebte er Kinder nicht. Weil sie immer Rosinen im Kopf hätten. Darüber war seine Frau traurig. Sie wollte gern einen Jungen wie Stephan. „Du wirst schon sehn“, sagte Stephan. Die Tante, also die Frau des Onkels, nickte beifällig. „Gib ihm Saures!“ Erfindungen lassen bekanntlich auf sich warten. Schon befürchtete Stephan, er könnte seinen zehnten Geburtstag nicht als Erfinder eines neuen Motors feiern. Da geschah es ...
Bevor ich aber nun berichte, was geschah, muss ich eure Aufmerksamkeit auf eine Nebensache lenken. Wie ihr seht, wusste Stephan sehr zeitig, was er werden wollte. Das ist bei allen großen Leuten so. Glaubt nicht Erfindern, die behaupten, sie hätten in Physik Fünfen gehabt. Vor allem Schriftsteller neigen zur Flunkerei. Dass sie wegen liederlicher Schrift und mangelnder Rechtschreibung sitzen geblieben wären und so. Damit wollen sie sich interessanter machen, als sie sind. Erfinder wissen als Kinder, dass sie Erfinder werden wollen. Alles andere ist erfunden.
Zurück zur Hauptsache. Eines Tages brachte Stephans Vater eine weiße Maus nach Hause. Sein Freund, ein Verkehrspolizist, hatte sie ihm geschenkt. Der züchtete in seiner Freizeit weiße Mäuse. Die Zoohandlung, die er seit vielen Jahren belieferte, konnte nicht alle abnehmen. Auf diese Weise kam Karottchen ins Haus. Sie bewohnte einen viereckigen Glasbehälter. Karottchen durfte auf Sägespänen und Zeitungsschnipseln herumliegen. Das Faulenzen aber gefiel ihr nicht lange. Sie versuchte, an den Wänden hinaufzuklettern und auf den Hinterbeinen zu tanzen. Das war ein ganz schönes Getue im Behälter. Stephan konnte nicht einschlafen, wenn er hörte, wie die Maus rackerte. Eines Nachts war ihm, als hätte jemand mit der Hand auf den Fußboden geschlagen. Er machte Licht und erschrak.
Karottchen war verschwunden. Wo war sie? Stephan sah unters Bett. Dort saß sie. Als er zugreifen wollte, sprang sie in den Pantoffel. Von dort unter den Schrank und so weiter. Ich will die Jagd nicht ausführlich wiedergeben. Eingefangen wurde die Maus schließlich mithilfe der ganzen Familie. In dem Augenblick sagte Stephan seinen in der ganzen Welt und darüber hinaus bekannten Satz: „Hier muss ein Rad rein.“ Vater, Mutter und Oma wussten nicht, was gemeint war. Sie rieben sich die Augen und gähnten. Die Oma murmelte: „Verdammtes Vieh.“ Stephan baute gleich am nächsten Tag ein Rad, eine hölzerne Trommel mit Speichen. Ihr wisst schon, was ich meine. Das Rad war einfach. Es war noch längst keine Erfindung. Ihr könnt es im „Museum für glänzende Einfälle“ in der Stephan-Maus-Straße besichtigen.
Dort steht es in demselben Glasbehälter, in dem Karottchen einst gewohnt hatte. Nur die Sägespäne und Zeitungsschnipsel sind aus hygienischen Gründen ausgewechselt worden. Die Maus stürzte sich aufs Rad. Endlich war in ihrer Umgebung etwas, was sich bewegen ließ. Sie arbeitete Tag und Nacht. Obwohl von Arbeit nicht die Rede sein kann. Sie spielte. Was die Trommel hielt. Und Stephan machte sich Sorgen um sein kleines Wesen. Er beruhigte sich jedoch, als er sah, dass Karottchen ab und zu einschlief, um danach wieder frisch und munter ans Spielen zu gehen. Es war viel Menschliches in ihrem Benehmen. Trotz der Freude, die er mit seiner Maus hatte, konnte er sich nicht damit abfinden, dass die Arbeit, die sie spielend verrichtete, sinnlos war, sinnlos vom Menschen her gesehen.
Aus der Sicht der Maus sah die Sache anders aus, der genügte das Laufen und Drehen an sich. Könnte man denken. Als Maus. Doch Stephan, auf dem Wege, ein Erfinder zu werden, dachte wie alle Menschen seit Tausenden von Jahren. Es gefiel ihm nicht, dass Karottchen ein Rad bewegte, ohne ... Sein Blick fiel auf das Poster über seinem Bett, auf dem eine alte Mühle abgebildet war. Ein silbriger Wasserstrahl ergoss sich aus einer hölzernen Röhre auf das große Schaufelrad und drehte es. Damit wurde ein Getriebe in Bewegung gehalten. Riesige Mühlsteine mahlten und schroteten. Siebe siebten. Flüglige Räder fächerten Luft in Kanäle, in denen die Spreu vom Weizen getrennt wurde. Der Mensch nutzte die Kräfte des Wassers. Warum, fragte er sich, könnte ich nicht auch die Kräfte meiner Maus nutzen? Karottchen wird nicht leiden, wenn sie ... Ja, was? Was könnte sie mit ihrem Tretrad antreiben? Zum Beispiel einen ... einen Dingsbums ... Da trat der Vater ins Zimmer und sagte, dass es schon spät sei. Als es finster war, kam Stephan die Erleuchtung. Das Dingsbums könnte ein Dynamo sein. Es würde eine Glühbirne ... und so weiter. Mensch, Maus, das ist die Idee, auf die ich schon lange gewartet habe! sagte er sich und konnte lange nicht einschlafen. Morgen, gleich nach dem Unterricht, vielleicht schon etwas früher, mache ich mich an die Arbeit.“
Und noch ein Buch von Alexander Kröger – diesmal allerdings kein utopisches, kein SF-Roman, sondern „Ego-Episoden des Alexander Kröger. Wahres, heiter und besinnlich“ – erstmals erschienen 2012 im Regia-Verlag Cottbus: Dr.-Ing. Routschek, der an der Bergakademie Freiberg Markscheidewesen studiert, 17 Jahre im Lausitzer Bergbau, danach in der Bauverwaltung gearbeitet hat, der unter dem Pseudonym Alexander Kröger bekannt gewordene Autor Dutzender wissenschaftlich-phantastischer Romane, Kurzgeschichten und Veröffentlicher seiner Stasi-Akte, stellt heiter-besinnliche Episoden und Geschichtchen vor: keine Biografie, dennoch in Jahrzehnten Selbsterlebtes mit unvermeidlichen Zeitzeugnissen. 86 situationskomisch-pointierte, mitunter skurrile aber auch besinnliche, illustrierte Geschichten, die bei reiferen Lesern Erinnern wachrufen, jüngere mit ehemals Alltagsbestimmendem, heute mitunter Lächerlichem, bekannt machen. Und so lesen sich diese Ego-Episoden. Anbei eine kleine Auswahl vom Anfang des Buches:
„Arbeitnehmerisches
Frauentag
Einer meiner ehemaligen Chefs: ein Ehrgeizling, inquisitorischer Drängler, ein Misstrauischer und Leuteverschleißer, wenn es um sein Fortkommen ging. Dabei, für mich kein Widerspruch, hatte der Mann Gespür, Visionen, war kreativ, aß Äpfel mitsamt dem Griebs, tauchte ungeduscht ins kalte Saunabecken, und er konnte den bloßen Arm tief in Unrat tunken. Und mit den Weibern hatte er’s.
Der 8. März, Frauentag, wurde in der Abteilung stets groß begangen — in diesem Jahr in einer hochgelegenen Ausflugsgaststätte. Es lag wadentief Schnee, und wir mussten zu Fuß hinaufsteigen. Die Stimmung war ausgezeichnet. Ein wenig schwitzend und mit klammen Kleidern kamen wir an.
Es ging fröhlich in den Abend. Albern, wie stets einmal im Jahr, servierten die Männer, gestalteten ein kleines Programm, und natürlich wurde sich tüchtig zugeprostet. Zu etwas fortgeschrittener Stunde begab ich mich eine Treppe tiefer zur dämmrigen Garderobe, um aus meinem Mantel einen Film zu holen. Nummeriert waren die Kleidungsstücke nicht. Sie hingen dicht gedrängt und klamm; ich musste mich suchend gleichsam hindurchwühlen.
Doch da! Ich spürte plötzlich Wärme, ergrabschte Anitas Wuschelhaarbausch, schob einen Mantel ein wenig zur Seite, sah ihren Kopf fest im Knutschgriff des Chefs und seine Hand in der Frau Bluse. Sehr rasch brach ich die Suche ab und verzog mich.
voreilig
Ein neuer Kommandant zog in die Bernsdorfer (bei Hoyerswerda) Garnison der sowjetischen Armee ein, ein Ereignis, das auch von Amtierenden in den Kommunen wahrzunehmen war. Als Abgeordneter des Kreistages wurde mir erstmalig die Ehre zuteil, dazu geladen zu sein. Nun wusste ich vom Hörensagen, dass es bei derartigen Anlässen stets hoch her ging, insbesondere, was den Konsum von Wodka betraf.
Von meinen früheren Besuchen der Schwester-Bergakademie Clausthal-Zellerfeld hatte ich in Erinnerung, dass sich dort die Herren Studenten vor ihren Gelagen mit entsprechenden, neutralisierenden Genussmitteln zu präparieren pflegten.
Ich komme aus dem Bergbau, dort ist man, wie man weiß, was den Alkoholkonsum anbelangt, nicht besonders zimperlich. So manchen deftigen Umtrunk habe ich gut überstanden. Aber: ,sicher ist sicher’, dachte ich und besorgte mir eine große Dose Ölsardinen (nicht gerade meine Leibspeise). Als vorsorgliche Grundlage für das zu Erwartende, >verputzte< ich die Fischchen mitsamt dem Öl. Mit einem gelinden Magendrücken fuhr ich nach Bernsdorf. Überraschung! Das Einzige, was es während des etwas steifen, ziemlich kurzen Festakts zu trinken gab, war eine abgestandene, süße, rote, künstliche Himbeerlimonade. Schon auf der Treppe schrie ich bei der Heimkehr trockenen Mundes nach etwas wirklich Trinkbarem.
Um eine Frau – aber nicht nur, sondern auch um einen Mann, der sich für sie interessiert, sogar mehr als sich nur zu interessieren, geht es in dem erstmals 1976 im Militärverlag der DDR erschienenen Buch „Rette mich, wer kann“ von Heinz Kruschel: Sie steht mit beiden Beinen im Leben, die selbstbewusste blonde Ille, Buchhalterin in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Die Bauern kommen gern auf einen kurzen Schnack zu ihr, und die jungen Burschen aus dem Dorf wissen: Mit Ille kann man Pferde stehlen gehen. Eines Tages kommt Rolf Blume ins Dorf, der kluge, zurückhaltende Journalistik-Student, und Ille verliebt sich bis über beide Ohren in ihn. Aus dem anfänglichen Geplänkel, kleinen Eifersüchteleien und Missverständnissen erwächst eine tiefe Liebe, und Rolf wird für Ille zu einem echten Partner, mit dem sie alle Fragen des Lebens besprechen kann.
Und wir können heute ein wenig mehr Zeit mit den beiden jungen Leuten verbringen – das komplette 2. und 3. Kapitel lang. Hören wir den beiden einfach mal zu. Viel Spaß beim Lesen:
2. Kapitel
Es war merkwürdig: Dieser Rolf ging mir in den nächsten Tagen nicht aus dem Kopf, ich dachte oft an ihn und wusste nicht, warum ich so oft an ihn dachte. Ich bin gern mit einem Jungen zusammen, ich bin ja nicht unnormal. Ich flirte und küsse auch gern, aber wenn ich merke, dass sie gleich alles von mir wollen, dass sie immer zudringlicher werden, dann werde ich stur, das nicht. Ich will den Mann lieben, mit dem ich das tue. Und nach Möglichkeit, ja nach Möglichkeit soll das mein Mann sein oder werden können. Ist das altmodisch? Meinetwegen, irgendwo ist jeder Mensch ein bisschen altmodisch.
Ich weiß nicht, wie mein Mann sein soll. In den Illustrierten stehen manchmal Umfragen, und die befragten Mädchen stellen Eigenschaften zu einer Liste zusammen. Eigenschaften, die ihre zukünftigen Männer haben sollten. Ich finde das Unsinn. Es gibt ja keine genormten Männer. Gott sei Dank gibt es sie nicht. Wenn da so ein Mädchen meint: „Mein Mann soll schlank und sparsam, dunkelhaarig und sportlich, höflich und erfolgreich im Beruf sein, er darf nicht trinken und muss seine Familie lieben, er darf kein passionierter Skatspieler sein, muss die Gleichberechtigung anerkennen und ein bisschen kochen und waschen und bohnern können, kinder- und tierlieb sein und auch fortschrittlich“, dann denke ich mir immer, die Illustrierten veröffentlichen das direkt zur Abschreckung für junge Männer, damit sie nicht zu früh heiraten. Aber das ist ein Irrtum, denn das Schlusswort schreibt meistens ein sehr alter Akademiker mit mehreren Titeln und viel Erfahrung. Der kann sich so gut an seine Jugend erinnern, analysiert die gewünschten Eigenschaften und bringt sie erst einmal in eine richtige Reihenfolge: Zuerst muss der Mann natürlich fortschrittlich sein und dann noch kochen, waschen und das übrige tun können.
Ich spotte über die Mädchen, die von einem Idealmann schwärmen und nur an Äußerlichkeiten denken: Groß muss er sein, und schlank muss er sein, und einen Bart muss er tragen, und weiße Zähne muss er haben. Nein, vielen Dank, ich kenne solche Männer. Am Ostseestrand laufen sie zu Hunderten ’rum, bronzegetönt und glänzend wie geputztes Messing, und sie recken sich und strecken sich und wölben den Brustkorb vor und tragen Kreuzchen um den Hals. Ich habe mal so einen kennengelernt, er war in solchem Verein, wo sie nichts weiter tun, als die Muskelpartien zu hegen und zu pflegen und die Stellen zu markieren, auf denen noch neue Muskeln antrainiert werden sollen. Als er mich küsste, merkte ich, dass er gar nicht bei der Sache war, sondern auf seinen linken Oberarm schielte, auf dem er die Muskeln tanzen ließ und ihr Spiel beobachtete. Der war schon idiotisch, ich habe mich mit ihm eingelassen, es war meine Schuld. Einmal und nie wieder einen Kulturistik-Mann. Die sollen sich an die Dewag vermieten, die könnte sie in die Schaufenster stellen und Freizeit-Anzüge an ihnen ausprobieren.
3. Kapitel
Nach drei Tagen kam Rolf Blume wieder ins Dorf. Hätte ich gewusst, dass er an diesem Tage kommt, ich hätte einen Vorwand gefunden, um zum Kreis zu fahren, zur Bauernbank oder zum Landwirtschaftsrat. Als ich ihn über unseren Hof kommen sah, klopfte mein Herz bis zum Halse. Aber ich gab mich „kühl bis ans Herz hinan“. Dabei war es warm, erst April, aber unsere dickbäuchigen Häuser schwitzten schon, der Regen fehlte in der Börde.
Ich sprach. Er schrieb. Er schrieb viel, denn ich redete viel. „Sie haben die hohen Mauern, die festen Häuser gesehen, große Bauern lebten früher in unserem Dorfe, Bauern, die sagen konnten: ,Up mienen Hof kann ick ok wat dotpietschen.‘ Sie hatten über dreihundert Morgen Land, hockten im Krug und rissen ihre Witze über die Halbspänner und Hufner oder über die armseligen Kotsassen.“ Von solchen Dingen weiß ich zu erzählen, meine Vorfahren sind arme Leute gewesen. Im Bruch steht noch das Schloss, jetzt sind Kindergarten und Schule und Bürgermeisterei darin untergebracht, früher musste mein Urgroßvater dort erscheinen, um die Befehle des Herrn entgegenzunehmen. „Die Kotzes herrschten in dieser Gegend, wissen Sie“, sagte ich.
Die Tür klappte, ein Bauer kam ins Zimmer, nahm die Mütze ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war Hannes Trosch, der Schweinemeister. „Daher der Ausdruck großkotzig“, sagte Rolf. Hannes hieb die Faust auf den Tisch. Guten Tag, hieß das. „Genau“, sagte er, „zu Hause habe ich einen Küchenzettel aus dem Jahre sechzehnhundertelf, da heiratete eine Kotze einen Kammerherrn, acht Tage lang, und sie verzehrten: einen polnischen Ochsen, fünf Amtsrinder, vier Bratschweine, zehn Spanferkel, achtundzwanzig Kälber, hundertneun Schöpse ...“
Hannes redet komisch, dachte ich, so geschraubt, es klingt, als knöpfe er die Sätze nach links übereinander. „Schöpse?“, fragte Rolf. „Was ist das?“ Ich feixte. Ein Journalist, der über Landwirtschaft schreibt und keine Schöpse kennt, gibt’s denn das? „Schafe natürlich. Und weiter: sechzehn Hirsche, fünfzig Hasen, zwei Schock Gänse, sechsundfünfzig Wildenten, Lerchen, Finken, neun Sorten Fisch, Austern, Konfitüre, bi wat is eben wedder wat gewesen ...“ „Alle Wetter“, sagte Rolf. Fiel ihm nichts Besseres ein? „Als wir den Hungerturm aufbrachen, nach fünfundvierzig, fanden wir noch Skelette von Bauern, keiner kannte mehr ihre Namen. De Doot makt Wunder.“ Rolf schrieb. Dann fragte er: „Und wie ist das nun mit der Kooperation, heute?“ Hannes Trosch, Wettergesicht und harte Hände, sah ihn an und sagte: „Schon gut, beschetten. Frag den Vorsitzenden. Ich muss gehen.“ Er knallte die Tür hinter sich zu. Ich sagte erklärend: „Der Hannes Trosch ist nicht dafür, wir sind als LPG stark gewesen, verstehen Sie, allein stark, und unsere Partner sind, na ja, das gehört wohl nicht hierher ...“
Wie wirkte das auf Blume? Die Zeitungen sind voll von der Notwendigkeit der Kooperation. Bauern, die dagegen waren, konnte er das verdauen? Er konnte. Ich sagte: „Früher zogen die Bauern dicke Mauern um ihre Häuser, heute möchten manche dicke Mauern um die Genossenschaft ziehen.“ Und ich erzählte ihm, wie sich alles entwickelt hatte. Vor zwei Jahren begann es. Erstens mit dem Wunsch der Leute vom Kreis und vom Bezirk, das große Beispiel zu schaffen. Fritze Schönemann unterstützte das, viele wunderten sich darüber, aber wer ärgerte sich zum Beispiel nicht über das verzettelte Bauen in den drei benachbarten Dörfern? Fritze sagte: Jawoll, ich bin für Kooperation. Das war der zweite Grund. Da waren die Bauern empört. Sollen wir die Schwachen aufpäppeln? hieß es. Je größer der Haufen, desto schlechter wird es, und zuletzt verlieren wir noch unsere Selbstständigkeit; suchen wir uns Partner, die mehr leisten, wir sind keine melkende Kuh. Die vom Kreis wollen nivellieren und uns Krampen in die Ohren beißen. „Wenn Sie alle Argumente aufschreiben wollen, reicht der Platz in der Zeitung nicht aus.“ „Aber es kam zu einem Beschluss?“ „Ja, schon.“ „War der Beschluss einstimmig?“ „Klar, fast einstimmig.“ „Also war nicht nur der Schweinemeister dagegen?“ Heilige Einfalt. Das gibt es doch, oder nicht? Auch die Zweifler sagten ja, als so kluge Bauern wie der Schönemann oder der lange Lüddecke von Adorf zum Beispiel dafür waren.
„In Lüttjen-Wasserleben“, sagte ich, „brauchten sie vor zwei Jahren noch zweihundertzwanzigtausend Mark Überbrückungskredit. Da sagte Hannes natürlich: ,Mit denen kooperieren wir nun, Mahlzeit, Leute! Da sind Hopfen und Malz verloren!‘“ „Und was sagten Sie dazu?“ Was sollte ich dazu sagen? Ich hatte gerade die Lehrzeit beendet, saß in meiner Buchhaltung wie zwischen Baum und Borke und musste mit allen Bauern auskommen. Wenn sie in meinem Büro saßen, redeten sie sich alles von der Seele, ich war eine Art Blitzableiter, ein Abladeplatz für die täglichen Sorgen. Und so hörte ich mir auch die Zweifler an und dachte: Was sie sagen, hat auch was für sich, zurzeit läuft unsere Produktion gut, warum sollten wir jetzt ein Risiko eingehen?
Aber ich verstand auch den Schönemann. Und meine Mutter. Die sagte: „Begreif doch, Ille. Da soll der Lüddecke-Hans in seiner LPG einen Schafstall bauen, aber er hat für eine große Zucht wenig geeignetes Land und kaum Tradition. Bei uns aber wurden schon vor fünfzig Jahren Schafe gehalten, und wir haben das Bodebruch. Siehst du das nicht ein?“ Natürlich sah ich ein. Natürlich war ich für die Kooperation. Aber ich sagte das nicht laut. Damals nicht. Für wen war ich eigentlich? Für die Zweifler, für die Bejaher, für die Verneiner? Ich wollte mich nicht von einer Gruppe festlegen lassen. Heute sagte ich zu dem Praktikanten Blume: „Nehmen Sie das Bauen. Wir einen Rinderstall, der Lüddecke einen und in Lüttjen-Wasserleben einen. Ist das nicht Unsinn? Einfacher und rentabler ist es, wenn die Rinder in einer LPG, die Schafe bei uns, die Bullen in Wasserleben gehalten werden ...“ „Klar, das ist einleuchtend für jeden Bauern“, sagte Blume und schrieb. „Der Lüddecke hatte das alles zu Papier gebracht, ein paar Varianten.“ „Der Nachbarvorsitzende?“ „Ganz recht. Der von Adorf, der mit dem Rechenstift zur Welt gekommen ist.“ „Aber das griff die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen an, nicht wahr?“ Der redet wie gedruckt, dachte ich und sagte: „Das greift sie noch heute an, weil es die Lebensbedingungen verändert, Jugendfreund.“ Er grinste. „Bist du auch in der FDJ?“, fragte er.
Jetzt duzt er mich, und man kann dagegen nichts tun. Abstand, Ille, halte Abstand, sagte ich mir, zuckte mit den Schultern und nickte. Denkt er, wir leben auf dem Mond? „Dann könnten wir Du zueinander sagen“, meinte er. „Das machst du ja schon“, sagte ich. Wir lachten. Dann beugte er sich wieder über seine Kladde. „Also, der Eisberg hieß damals Lüttjen-Wasserleben ...“ „Eisberg? Ach so, ja, und den Eisberg übernahm damals Ete Wengebrand.“ „Den möchte ich kennenlernen.“ „Fahr doch hin, mit dem Wolga nur fünfzehn Minuten.“ „Könntest du nicht mitkommen?“ Bloß nicht, dachte ich und sagte: „Ich erwarte die Vertreter der Landwirtschaftsbank, die werden mich löchern, warum wir dieses Jahr keine Kredite in Anspruch genommen haben.“ Der Hauptbuchhalter blinzelte über seine Brille und meinte: „Fahr doch mit, Ille, ich bin ja hier. Du kennst ja alle. Man muss der Presse die Arbeit erleichtern, wir arbeiten ja alle an einem Strang.“
So fiel mir mein Kollege Vorgesetzter in den Rücken. Ich ging die Treppe hinunter, auf den blauen Wolga zu und nahm wie selbstverständlich neben dem Fahrer Platz. Wenn schon, denn schon. Der Fahrer schmunzelte. „Ein blauer Wolga passt zu deinem weißen Kleid“, sagte Blume, „himmelblau und weiß ...“ „Der ist hainblau“, sagte ich. Keine Ahnung, ob es hainblau überhaupt gibt, aber so was imponiert immer, und er nickte auch schon Beifall. Es roch nach Rauch und Wärme. Die großflächige Börde zeigte ein glattes Gesicht, sauber und duftend und glänzend, und der Wind fächelte sanft über die kleinen Hügel hin. Aus den Senken stieg Dampf auf. Ein Doppeldecker brummte drüber weg und streute Dünger.
Ete Wengebrand war nicht im Büro. Wir trafen ihn draußen vor einem Schlag Wintergetreide beim Singen, jawohl, der Vorsitzende sang, nicht mal schlecht, sondern laut und kräftig. Er strich sich über die wellige Schmalztolle, als er mich sah; in jungen Jahren wollte Ete mal Operettentenor werden, davon sitzt heute noch was in ihm. „Der Kollege ist von der Zeitung“, sagte ich zu Ete, „deine Genossenschaft ist ein lohnendes Objekt für ihn.“ „Die Kooperation“, verbesserte mich Blume und begann Ete gleich nach Lüttjen-Wasserleben zu fragen. Eine Sicherheit besaß dieser Junge, nicht viel Ahnung von der Landwirtschaft, aber immer frisch drauflos. „Der Eisberg ist getaut“, sagte Ete fröhlich, „schaut euch doch um, alles wie geleckt! Und hier, wo wir stehen, war vor zwei Jahren Unkraut, unter dem Unkraut Klee. Und der Klee war als Vermehrungssaatgut aberkannt worden. Damals war mir das Weinen näher als das Singen.“ „Vorbei“, sagte ich. Ich mag nicht, wenn man sich so lange bei der Vergangenheit aufhält und sich vor Stolz auf die Brust schlägt, ach, was sind wir doch gut, dabei fahren wir noch nicht immer in der richtigen Spur. Ete wandte sich an mich. „Damals sagtet ihr aus Branzleben: Mit denen sollen wir kooperieren? Die sollen wir mit aller Gewalt hochpäppeln? Prost Mahlzeit.“ „Ich habe das nicht gesagt“, verteidigte ich mich. „Du hast nichts gesagt“, warf Ete ein, „du sagst zu Dingen, die heikel sind, auch heute selten was.“ Rolf Blume lächelte mich an. Das war mir schon aufgefallen: Wenn kritische Worte laut werden, lächelt er. Ich glaube, dann denkt er nur an seine guten Zensuren. Eigentlich hat er einen schönen Mund, nicht schmal wie ein Strich, nicht wulstig, sondern groß und geschwungen.
„Und heute?“, fragte Blume. „Heute hat die Kooperation über fünftausend Hektar, wir sind sechs Betriebe mit drei unterschiedlichen Eigentumsformen, Genossenschaften, Volksgut, BHG, heute flutscht es, wat hätt de Lüt sick früher rackt und plackt.“ „Keine Probleme mehr?“ Ete lachte laut. „Im Paradies leben wir nicht, Probleme passen sich einem höheren Niveau auch an, aber wir verzetteln uns nicht mehr.“
Als wir zurückfuhren, spendierte Rolf Blume in „Flotts Höhe“ eine Selters mit Geschmack. Drohend lag sein rotes Notizbuch auf dem Tisch. „Mich interessiert noch“, sagte er, „warum die Kooperation vor zwei Jahren wieder zusammenbrach?“ „Das ist nicht einfach zu erklären. Vielleicht war’s zu früh, vielleicht misstrauten die Bauern den Theoretikern aus der Stadt, die alles so schön vorrechnen konnten. Und dann dieser komplexe Einsatz, der ganz danebenging. Ich denke mir, die Menschen waren noch nicht reif, und jeder Vorsitzende dachte nur an sein Scherflein, an den Gewinn für seinen Betrieb.“ „Um ein Karat Diamanten zu gewinnen“, sagte Blume, „müssen zweihundertfünfzig Tonnen Gestein bewegt werden. Und von diesem einen Karat ist nur ein Bruchteil für Schmuck zu gebrauchen.“ „Das hast du schön gesagt.“ „Danke. Und wann wurde es nun besser?“ „Zunächst gar nicht. Man half sich mal aus, verpumpte eine Maschine, mehr nicht. Der frisch geschneiderte Anzug Kooperation hing im Schrank, wir latschten in den alten Klamotten.“ „Das hast du nicht schlecht gesagt. Und dann?“ „Voriges Jahr war es, da wurde ein Rübenkomplex geplant und sehr gut vorbereitet. Sozusagen der letzte Versuch. Die Vorsitzenden gaben sich große Mühe, alle zu überzeugen. Denn die Traktoristen sagten zu ihnen: ,Gut, wir tun euch den Gefallen, aber wenn es wieder nicht klappt, dann bleibt uns mit solchen Späßen fern.‘ Es klappte in der Komplexbrigade, der Ete Wengebrand erntete auf seinen Schlägen nicht hundertachtundachtzig Dezitonnen auf dem Hektar, sondern über dreihundert, und nichts blieb in der Erde, das war Spitze im ganzen Bezirk. Und kein Bauer und kein Schulkind buddelte mehr im November mit klammen Händen und unterm Schnee nach Rüben.“
Rolf Blume schrieb wieder. Seine Selters wurde schal. Er sagte: „Für die Leser, weißt du, da muss das noch klarer werden, mit den Vorteilen der Kooperation und so ...“ Ich überlegte und sagte schließlich: „Ein Beispiel. Bei uns steigt durch die Kooperation die Milchproduktion. Und warum? Früher stöhnten und zeterten doch die Bauern über das miese Futter.“ „Wann früher, Ille?“ „Noch vor zwei Jahren, als wir noch nicht komplex ernteten, da wurde das Rübenblatt erst dann geräumt, wenn die Rüben vom Feld waren, also manchmal erst im Dezember. Dann war das Blatt längst schmierig geworden, aber nun haben wir frisches Futter, weil wir Rübe und Blatt sofort ernten, die Kühe geben mehr Milch, auf gutes Futter reagieren sie gern, weiß gekalkte Ställe allein machen’s nämlich noch nicht.“ „Das Beispiel ist prima.“ „Ich weiß noch mehr.“ „Es reicht.“ Er klappte sein Notizbuch zu und meinte: „Ich verstehe das nicht. Du redest so positiv von der Kooperation, als müsstest du mich davon überzeugen.“ „Na und?“ „Der Wengebrand meinte, dass du dich mit deiner Meinung immer zurückhältst. Stimmt denn das? Ich kann es nicht recht glauben.“ „Wenn so eine Sache neu anfängt“, sagte ich, „dann hat sie immer zwei Seiten, und es ist noch gar nicht ’raus, welche mehr glänzt.“ „Aber für eine Seite sollte man sich doch entscheiden, auch wenn sie nicht glänzt auf Anhieb, meine ich. Das Glänzen kann sich auch später erst herausstellen.“ „Mit solchen Entscheidungen habe ich keine guten Erfahrungen gemacht, und schnell macht man sich Feinde.“ „Also weder ja noch nein? Weder Fisch noch Fleisch?“
Ich stand auf. Das war zu viel. Was bildet sich der Kerl ein? „Sie werden im Büro schon auf mich warten“, sagte ich. Du bist ja so klug, dachte ich, du kannst dich nicht in meine Lage versetzen. Ja, ich lebe gern auf dem Dorfe, und ich liebe meine Arbeit, aber was wir hier tun, das soll von Dauer sein und nicht ein wildes Experimentieren. Vielleicht muss ich mich mehr mit der Theorie beschäftigen, man sollte wissen, wie das so in andern Ländern langgeht, der Blume weiß das bestimmt. Was soll ich ihm antworten? Ich muss mit allen Bauern auskommen. Aber dem breite ich doch nicht meine Seele aus wie ein Schaffell unter der Sonne zum Trocknen. Trotzdem gefiel mir dieser Blume, und es gefiel mir auch, dass er mir nicht gleich recht gab. Es gibt solche Jungen, die geben einem Mädchen gleich recht, weil sie meinen, dann schneller zum Ziel zu kommen. Aber Blume? Wollte er überhaupt bei mir zum Ziel kommen? Ille, du verfällst einem Wunschdenken. Im Wagen sagte er: „Das passt so gar nicht zu dir.“ „Was passt nicht zu mir?“ „Diese vorsichtige Unentschlossenheit eines Bürokraten.“ Ich schwieg beleidigt, ich suchte nach einer Entgegnung, der „Bürokrat“ traf mich hart, aber mir fielen nur zahme Argumente ein, wiederholen wollte ich mich nicht, darum hielt ich lieber den Mund. Ausgerechnet ich ein Bürokrat! Man muss taktisch klug handeln, wenn man tagtäglich hier arbeitet und mit unterschiedlichen Meinungen zu tun hat. Blume ist ein Stoffel.
An diesem Tage kam der Praktikant nicht in die Buchhaltung zurück. Hatte er schon genug Material für seinen Artikel? Fritz Schönemann tauchte auch wieder auf, lachend, die Mütze wie immer schief auf dem kantigen Kopf. „Alles überstanden, Ille? Schreibt er einen ungemein guten Artikel?“ „Ich glaube schon.“ Dieser Blume, gefiel er mir überhaupt noch? Jetzt, nachdem er mich beleidigt hatte? Ich hatte die Nase gestrichen voll von ihm.“
Aber zum Glück sind wir erst am Anfang dieses Buches, wir haben erst das zweite und das dritte Kapitel von „Rette mich, wer kann“ von Heinz Kruschel hinter uns. Und da kann und da wird noch viel passieren zwischen den beiden Jugendfreunden, zwischen der Buchhalterin Ille und dem Aufschreiber Rolf. Wie sagt doch ein lebenskluges chinesisches Sprichwort: Haben Sie es schon gelernt, sich über Hindernisse zu freuen? Mitunter wird auch die Liebe durch Hindernisse erst so richtig schön und – dauerhaft haltbar. Ein schönes post-sozialistisches Gedankenexperiment zum Schluss: Ob Ille und Rolf wohl heute noch zusammen wären? Was meinen Sie? Und wie sieht eigentlich Ihrer Meinung nach „hainblau“ aus?
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